Mit immer höheren Preisen erzeugen Arzneimittel für sehr kleine Patientenpopulationen – entgegen anderslautender Aussagen auch immer höhere Ausgaben: 2018 wurden beispielsweise für Arzneimittel gegen seltene Leiden 1,3 Mrd. € von der GKV ausgegeben, 2020 waren es bereits ca. 2,9 Mrd. €, d.h. die Ausgaben der GKV für Orphan Drugs haben sich innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Ob diese Ausgaben auch durch einen therapeutischen Nutzen gerechtfertigt sind, ist mangels aussagekräftiger Nachweise vielfach unklar. Ob die Möglichkeit der anwendungsbegleitenden Datenerhebung dazu beitragen wird, aussagekräftige Daten zu erzeugen, bleibt abzuwarten.
Im Spiegelkabinett der europäischen Preise
Bei Arzneimitteln mit unreifer Datenlage und bei Orphan Drugs auch ohne zweckmäßige Vergleichstherapie steht in Frage, ob der Erstattungsbetrag noch nutzenbasiert verhandelt werden kann. In der Praxis richtet sich der deutsche Preis für Orphan Drugs dann häufig – mangels Evidenz – nach den Preisen anderer europäischer Länder. Die tatsächlichen Preise in 15 EU-Ländern sind ein weiteres gesetzliches Kriterium bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen im Allgemeinen und stellen sich schon im Normalfall bei einer Verhandlung des Erstattungsbetrages für ein Arzneimittel mit Zusatznutzen als problematisch dar. Ursprünglich hatte das AMNOG das Anliegen das hohe deutsche Preisniveau im Vergleich zu den Preisniveaus anderer europäischer Länder zu senken. Das Kriterium „tatsächliche Preise in 15 EU-Ländern“ führt in der Praxis oft zu Problemen und hat mittlerweile den Effekt einer Erhöhung der Erstattungsbeträge. Denn pharmazeutische Unternehmer lehnen es weitgehend ab, die tatsächlichen Preise für ihr Arzneimittel in anderen europäischen Ländern in den Verhandlungen zu offenbaren. Hierzu müssten beispielsweise dem jeweiligen Gesundheitssystem gewährte Rabatte abgezogen werden. Stattdessen übermitteln sie Preise, die nicht das tatsächliche Preisgefüge in Europa real abbilden und maßgeblich vom pharmazeutischen Unternehmer mitbeeinflusst werden können. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass das deutsche Preisniveau für viele Arzneimittel vermutlich oberhalb des tatsächlichen europäischen Preisgefüges liegt.
Spill-over-Effekte hoher Einstiegspreise
Nach einem Jahrzehnt AMNOG sind bei den Arzneimitteln gegen seltene Leiden problematische Zweitrundeneffekte beobachtbar. Hierzu gehört eine Art „spill over“-Effekt der Zusatznutzenfiktion für Orphan Drugs: Dieser Effekt entsteht, wenn Wirkstoffe zunächst zur Behandlung einer seltenen Erkrankung zugelassen werden, dann aber im Laufe der Zeit die Zulassung des Arzneimittels auf größeren Anwendungsgebiete erweitert wird. Problematisch an so einer Zulassungserweiterungskaskade ist, dass Orphan Drugs häufig mit einem sehr hohen Preis für die seltene Indikation in den Markt einsteigen und häufig der nachfolgend verhandelte Erstattungsbetrag hoch ausfällt, auch mit der Begründung, dass er nur für eine kleine Patientenanzahl greife. Dieses Preisniveau ist dann aber Ausgangspunkt für Verhandlungen von Erstattungsbeträgen in anderen Indikationen mit weitaus mehr Patienten und ggf. anderem, eher niedrigerem Preisniveau.
Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Zulassungsreihenfolge ist der Wirkstoff Olaparib. Olaparib wurde zunächst 2014 als Orphan-Arzneimittel zur Behandlung des Eierstock-, Eileiter- und Bauchfellkrebs zugelassen. Es folgten in den Jahren 2018, 2019 und 2020 Zulassungserweiterungen auf weitere Indikationen, darunter Brust-, Bauchspeicheldrüsen- und Prostatakrebs. Der Wirkstoff verlor infolgedessen den Orphan-Drug-Status. Die ersten Verhandlungen führten zu einem Erstattungsbetrag, der zu Therapiekosten in Höhe von 82.740,68 € pro Jahr pro Patientin führte. Da stets nur ein einheitlicher Abgabepreis für ein Arzneimittel gelten kann, musste bei den jeweiligen Zulassungserweiterungen, die zum Teil Zusatznutzen aufwiesen, zum Teil nicht, stets ein Mischpreis gefunden werden. Das jeweilige Preis- bzw. Kostenniveau der übrigen Indikationen lag dabei unter dem Kostenniveau, das durch den ersten Erstattungsbetrag erzeugt wurde. In diese Mischpreise spielte daher der erste Erstattungsbetrag, der ursprünglich für die Indikation eines seltenen Leidens ohne bisherige Therapiealternative gefunden worden war, in erheblichem Maße gesamtpreiserhöhend hinein.
Arzneimittel ohne Zusatznutzen: Keine Mehrausgaben ohne ein Mehr an Nutzen
Nach der ursprünglichen Konzeption des AMNOG waren für neue Arzneimittel ohne Zusatznutzen die Kosten strikt auf die Kosten der bisherigen wirtschaftlichsten Option der zweckmäßigen Vergleichstherapie gedeckelt. Dieses Grundprinzip ist mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) im Jahr 2017 aufgegeben worden. Im „begründeten Einzelfall“ darf ein Arzneimittel ohne Zusatznutzen nun auch mehr kosten als die zweckmäßige Vergleichstherapie. Damit wird ein Grundanliegen des AMNOG - keine Mehrkosten ohne ein Mehr an Nutzen - nicht nur relativiert, sondern ausgehebelt. Dies hat darüber hinaus ausgabensteigernde Folgeeffekte in Form von steigenden Preisen für vergleichbare Arzneimittel und steigende Zusatznutzenpreise. Es schwächt die Eignung des AMNOG zur Ausgabendämpfung erheblich und damit zur Sicherstellung der finanziellen Stabilität der GKV beizutragen.