Eine medizinische Behandlung kann bei Menschen sehr unterschiedlich wirken. Was den einen heilt, wirkt beim anderen nicht und führt beim Dritten sogar zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes inklusive schwerer Nebenwirkungen. Die Medizin versucht diesem Problem seit jeher durch möglichst zielgenaue, individuell angepasste Therapien gerecht zu werden. Eine neue Dimension hat dieses alte Suchen nach möglichst passgenauen Therapien durch die Gen- und Biotechnologie bekommen und geistert als Schlagwort "individualisierte Medizin" durch Wissenschaft, Medien, Arztpraxen und Patientenforen.
Anhand von molekularbiologischen Testergebnissen sollen medizinische Entscheidungen zweifelsfrei getroffen werden können, so das Versprechen der Hersteller. Beispielsweise soll das Vorhandensein bestimmter Gene oder die gebildete Menge von Proteinen Auskunft geben, ob ein Arzneimittel wirkt oder ob Krebspatienten auf eine Chemotherapie verzichten können.
Altes Prinzip – neue Technologie
Indem die Industrie auf das technologische Wechselspiel zwischen Genen, Proteinen und Geweben setzt, betritt sie damit kein prinzipielles Neuland, sucht aber an anderer Stelle nach Krankheitsmerkmalen. Hier zeigt sich ein ganz normaler Prozess der Forschung, Patientengruppen durch neue technische Verfahren abzugrenzen, um dann eine dazu passende Therapie zu gestalten. "Individualisierte Medizin“ meint nicht, dass ein Verfahren oder ein Arzneimittel nur für einen einzelnen Patienten und sein spezifisches bio-psycho-soziales Krankheitsmodell entwickelt wird. Es geht um Therapien für kleinere Patientengruppen, die genauer abgrenzbar werden. Unklar ist, ob der biochemische Erkenntnisgewinn wirklich zu einer therapeutisch bedeutsamen Abgrenzung von Patienten führt. Wie auch immer die Hersteller selbst ihre Produkte beschreiben – ob als „individualisierte“ oder in den 90er-Jahren als „maßgeschneiderte Medizin“ -, für die Versorgung bleibt der nachgewiesene patientenrelevante Nutzen entscheidend und dieser fehlt bisher oft.
In der Theorie versprechen z. B. neue Testverfahren, jene Brustkrebspatientinnen besser als mit den bisherigen klinischen Merkmalen zu identifizieren, die auf eine Chemotherapie verzichten können. Wendet man von den verschiedenen, heute angebotenen Biomarker-Tests aber zwei verschiedene an ein und derselben Gewebeprobe an, erhält man zum Teil gegensätzliche Ergebnisse. Einer der Tests steht auf der Grundlage der Ergebnisse einer großen internationalen Studie mit über 10.000 Frauen zur Beantwortung dieser lebenswichtigen Frage inzwischen in der Regelversorgung nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Verfügung. Über andere Tests wird noch weiter beraten.
Auch „individualisierte Medizin“ muss Nutzen nachweisen
Tatsächlich hat die Technologie hinter der „individualisierten Medizin“ durchaus das Potenzial, neue Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zu erschließen. Sollte es durch sie gelingen, Ansprechraten auf Therapien zu erhöhen, ließe sich die Behandlungsqualität deutlich erhöhen. Ob dieses Ziel erreicht wird, bedarf jeweils eines Nachweises in vergleichenden Studien. Diese Forderung nach Belegen gilt sowohl für neue „konventionelle“ Ansätze als auch für Methoden der „individualisierten Medizin“. So konnte z. B. für eine Reihe von gezielten Arzneimitteltherapien (besonders bei Krebserkrankungen), die nur wirken, wenn der Tumor ganz bestimmte Eigenschaften besitzt, der Nachweis in klinischen Studien erbracht werden.