Das AMNOG

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Wie in kaum einem anderen medizinischen Bereich konnten bei der Versorgung mit Arzneimitteln in den letzten Jahrzehnten erhebliche therapeutische Fortschritte erzielt werden. Zugleich steigen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel seit Jahrzehnten trotz aller Versuche des Gesetzgebers, diese einzudämmen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) aus dem Jahr 2010 widmete sich dieser Problematik mit einer grundlegenden Neustrukturierung der Preisbildung für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen. Der deutsche Gesetzgeber erhielt dabei den schnellen und umfassenden Zugang aller Patientinnen und Patienten zu jedem neuen erstattungsfähigen Arzneimittel unmittelbar nach Zulassung und Markteintritt aufrecht - anders als in vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Arzneimittelausgabensteuerung auch über eine Beschränkung des Zugangs zu Arzneimitteln erfolgt.

2011 wurde die nahezu unbeschränkte Preisfreiheit der pharmazeutischen Unternehmer zunächst auf das erste Jahr, seit 2022 auf die ersten sechs Monate nach Inverkehrbringen in den deutschen Markt beschränkt. Anstelle eines einseitig bestimmten Preises wurden zwei Verfahren unter Einbindung einer Vielzahl an Beteiligter etabliert. Diese beiden Verfahren sind die Nutzenbewertung nach § 35a SGB V und die Findung eines angemessenen Erstattungsbetrages nach § 130b SGB V. Die Preisbildung findet in einem Verhandlungsverfahren mit etwaig anschließender Schiedsstelle bei Nichteinigung statt. Die Parteien sollen gemeinsam einen Ausgleich zwischen den Interessen einer angemessenen Vergütung des pharmazeutischen Unternehmers, sowie einer angemessenen Ausgabenbelastung für die GKV finden. Maßgeblicher Orientierungsmaßstab hierfür ist der in einem eigenen Verfahren vor dem sachverständigen Gremium des Gemeinsamen Bundesausschuss nachgewiesene und bewertete Zusatznutzen des Arzneimittels für den Patienten im Vergleich zu einer etablierten Standardtherapie, und zwar in seiner Wahrscheinlichkeit und seinem Ausmaß.

Der Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) unterliegen alle erstattungsfähigen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und neuen Wirkstoffkombinationen, die ab dem 1. Januar 2011 erstmals in Deutschland in den Verkehr gebracht worden sind oder wenn für ein Arzneimittel mit bekanntem Wirkstoff eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt wurde. Die Nutzenbewertung findet grundsätzlich innerhalb der ersten sechs Monate, nachdem das Arzneimittel vom pharmazeutischen Unternehmer in den deutschen Markt eingeführt wurde, statt. Gegenstand des Verfahrens beim G-BA ist, ob das Arzneimittel einen zusätzlichen patientenrelevanten therapeutischen Effekt („Zusatznutzen“) gegenüber der bisherigen Standardbehandlung für die jeweilige Erkrankung („zweckmäßige Vergleichstherapie“) hat. Der G-BA wertet dabei insbesondere als Zusatznutzen, wenn durch das Arzneimittel eine zusätzliche Verlängerung des Überlebens, Verbesserung des Gesundheitszustands, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verringerung von Nebenwirkungen oder eine Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zur bisherigen zweckmäßigen Vergleichstherapie in dem zugelassenen Anwendungsgebiet des Arzneimittels festgestellt werden kann.

Grundlage für diese Bewertung bildet eine vom pharmazeutischen Unternehmer einzureichende Nachweis- und Unterlagensammlung („Dossier“), in dem insbesondere Daten, die auch bei der Zulassung des Arzneimittels zugrunde lagen, sowie Daten aus weiteren nutzenbewertungsrelevanten klinischen Studien zu diesem Arzneimittel enthalten sind. Pharmazeutische Unternehmen haben die Möglichkeit, bereits vor Planung einer Studie oder Beginn des Nutzenbewertungsverfahrens eine Beratung durch den G-BA in Anspruch zu nehmen, z. B. zu Fragen der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder patientenrelevanten Endpunkten im jeweiligen Anwendungsgebiet.

Das Dossier wird einer wissenschaftlichen Bewertung unterzogen, welche in der Regel vom Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführt wird. Maßstab für die Nutzenbewertung bildet der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse; methodisch folgt die Bewertung den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin. Diese Nutzenbewertung wird drei Monate nach Beginn des Verfahrens veröffentlicht. Pharmazeutische Unternehmer, Fachgesellschaften, Verbände, und medizinische Sachverständige erhalten die Gelegenheit, schriftlich und mündlich zu dem Ergebnis der Nutzenbewertung Stellung zu nehmen und ggf. weitere Daten einzubringen.

Innerhalb von weiteren drei Monaten fasst der G-BA einen Beschluss auf Basis der Nutzenbewertung und der eingebrachten Stellungnahmen. Darin stellt der G-BA u. a. das Ausmaß (geringerer Nutzen bis hin zu einem erheblichen Zusatznutzen) und die Aussagewahrscheinlichkeit (Anhaltspunkt, Hinweis, Beleg) des Zusatznutzens fest. Weitere Inhalte des Beschlusses des G-BA sind u. a. die Jahrestherapiekosten des bewerteten Arzneimittels und dessen zweckmäßiger Vergleichstherapie, Patientenzahlen sowie Vorgaben zur qualitätsgesicherten Anwendung. Reicht der pharmazeutische Unternehmer innerhalb einer bestimmten Frist kein Dossier oder ein formal unvollständiges Dossier ein, gilt der Zusatznutzen als nicht belegt. Reserveantibiotika oder Arzneimittel, durch die den gesetzlichen Krankenkassen nur geringfügige Ausgaben entstehen, können auf Antrag von der Dossierpflicht freigestellt werden. Für Arzneimittel für seltene Leiden („Orphan Drugs“) sowie für von der Dossierpflicht entbundene Reserveantibiotika gilt der Zusatznutzen aufgrund gesetzlicher Fiktion als belegt.

Es gibt weitere Fallkonstellationen mit ggf. abweichenden Verfahren wie beispielsweise den Fall von Neubewertungen aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Überschreitung eines Umsatzes von 30-Millionen-Euro innerhalb von 12 zwölf Kalendermonaten bei Orphan Drugs oder aufgrund einer Erweiterung der Zulassung um neue Anwendungsgebiete. Die Voraussetzungen und Anforderungen der Nutzenbewertung können im Einzelnen der gesetzlichen Regelung des § 35a SGB V sowie der Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V entnommen werden.

An die Veröffentlichung des Nutzenbewertungsbeschlusses schließt sich eine sechsmonatige Phase der Preisbildung an, es sei denn der G-BA ordnet das Arzneimittel einer Festbetragsgruppe zu. In regelhaft vier Verhandlungsterminen innerhalb von sechs Monaten sollen der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und der pharmazeutische Unternehmer für das Arzneimittel den in Deutschland geltenden Abgabepreis für das Arzneimittel, den sog. „Erstattungsbetrag“ (§ 130b SGB V), verhandeln.

Auf Grundlage des Beschlusses des G-BA zum Zusatznutzen des neuen Arzneimittels werden Verhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-SV zur Vereinbarung eines Erstattungsbetrages geführt. Der Erstattungsbetrag gilt ab dem 7. Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels als neuer bundesweit gültiger und einheitlicher Abgabepreis für gesetzlich Versicherte wie auch Privatversicherte und Selbstzahler. Daher sind als weitere Teilnehmer an den Verhandlungen Vertreter des Verbandes der privaten Krankenversicherung vorgesehen. An den Verhandlungen nimmt auch ein Vertreter einer Krankenkasse teil, um praktische Erfahrungen zu Versorgungsaspekten einzubringen. Der Erstattungsbetrag ist durch die Unternehmen an Preis– und Produktverzeichnisse für Arzneimittel zu melden. Dort ist er für Marktteilnehmer zur Orientierung einsehbar; für Krankenhäuser gilt er qua Gesetz im Einkauf als Höchstpreis.

Die jeweiligen Verhandlungsvorgaben ergeben sich einerseits aus dem Gesetz, vor allem § 130b SGB V, sowie andererseits aus der zwischen dem GKV-SV und den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Spitzenorganisationen der pharmazeutischen Unternehmer auf Bundesebene getroffenen Rahmenvereinbarung nach §130b Absatz 9 SGB V.

In den Jahren seit Bestehen des AMNOG wurden die Preisbildungsvorgaben nahezu jedes Jahr geändert. Zentrale Vorgaben zur Verhandlung des Erstattungsbetrages richten sich nach dem Ergebnis der Nutzenbewertung durch den G-BA und - seit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) – zusätzlich auch danach, ob eine patentgeschützte oder eine generische zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt wurde.

Überblick Preisbildungsvorgaben

Ein Grundsatz des AMNOG ist die Preisdifferenzierung nach nachgewiesenem Zusatznutzen. Dieser war und ist allerdings nicht in Reinform gegeben, andere Kriterien treten hinzu.

Zunächst können folgende nach Zusatznutzen und Bestand oder Wegfall der von Unterlagen- und Patentschutz der zweckmäßigen Vergleichstherapie differenzierende Vorgaben als Ausgangspunkt der Verhandlungen angesehen werden:

  • Für Arzneimittel, für die der G-BA keinen Zusatznutzen festgestellt hat und deren zweckmäßige Vergleichstherapie keinen Patentschutz und Unterlagenschutz besitzen, soll ein Erstattungsbetrag vereinbart werden, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die vom G-BA bestimmte wirtschaftlichste zweckmäßigen Vergleichstherapie ohne Patentschutz.
  • Für Arzneimittel, für die der G-BA keinen Zusatznutzen festgestellt hat und deren durch den Gemeinsamen Bundesausschuss bestimmte zweckmäßige Vergleichstherapie einen Wirkstoff bestimmt, für den Patentschutz oder Unterlagenschutz besteht, ist ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der zu Jahrestherapiekosten führt, die mindestens 10 Prozent unterhalb derjenigen der zweckmäßigen Vergleichstherapie liegen (Teil der sog. Leitplanken).
  • Für ein Arzneimittel, für das ein Zusatznutzen nach § 35a Absatz 1 Satz 5 als nicht belegt gilt, da kein vollständiges Dossier vorgelegt wurde, ist ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der zu in angemessenem Umfang geringeren Jahrestherapiekosten führt als die durch den Gemeinsamen Bundesausschuss bestimmte zweckmäßige Vergleichstherapie; die Vorgabe eines mindestens 10 prozentigen Abschlages gilt für diese Fallgruppe entsprechend.

Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen ist bei den Vorgaben zunächst nach dem Bestand oder Wegfall von Unterlagen- und Patentschutz und dann nach der Wahrscheinlichkeit und dem Ausmaß des Zusatznutzens und der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu differenzieren:

  • Wurde eine zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt, für die weder Patent- noch Unterlagenschutz besteht, wird gemäß Rahmenvereinbarung der Erstattungsbetrag für Arzneimittel mit Zusatznutzen durch einen Zuschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie vereinbart.
  • Bei Arzneimitteln, für die eine zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt wurde, für die noch Patent- und Unterlagenschutz besteht, gelten je nach Ausmaß des Zusatznutzens bei der Preisfindung unterschiedliche Vorgaben nach § 130b Abs. 3 SGB V :
    • Für Arzneimittel mit beträchtlichem oder erheblichem Zusatznutzen findet die Rahmenvorgabe eines Zuschlags auf die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie sowie das gesetzliche Kriterium der Jahrestherapiekosten vergleichbarer Arzneimittel Anwendung.
    • Für Arzneimittel mit geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen gilt, dass der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Kosten führt als die wirtschaftlichste zweckmäßige Vergleichstherapie (Teil der sog. Leitplanken).

Hat der G-BA mehrere gleichermaßen zweckmäßige Vergleichstherapien mit und ohne Patent – und Unterlagenschutz bestimmt, richtet sich die einschlägige Preisfindungsvorgabe nach der wirtschaftlichsten Alternative. Daneben gibt es bestimmte Fallkonstellationen, in denen weitere Abschläge auf die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder auf den zuvor vereinbarten Erstattungsbetrag zu vereinbaren sind

Das Medizinforschungsgesetz (MFG) hat die Vorgaben zur Preisfindung bei Arzneimitteln mit nicht nachgewiesenem, geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen, für die eine zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt wurde, für die noch Patent- und Unterlagenschutz besteht (so. Leitplanken), gelockert.

Die Vorgaben der Preisobergrenze der Jahrestherapiekosten oder eines Abschlages von mindestens 10 Prozent unter den Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie („Leitplanken“), finden keine Anwendung für diese, wenn der pharmazeutische Unternehmer dem Gemeinsamen Bundesausschuss darlegt, dass er klinische Studien zu einem Anteil von mindestens 5 Prozent in Deutschland durchgeführt hat. Der G-BA überprüft im Rahmen der Nutzenbewertung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Ist dies der Fall, kann der pharmazeutische Unternehmer den Erstattungsbetrag ohne Berücksichtigung der „Leitplanke“ aushandeln.

Zudem sollen laut Gesetz die Jahrestherapiekosten vergleichbarer Arzneimittel zusätzlich berücksichtigt werden, welche das Marktumfeld für das neue Arzneimittel repräsentieren.

Das Kriterium der tatsächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern gewichtet nach den jeweiligen Umsätzen und Kaufkraftparitäten findet seit 1. Januar 2025 keine Anwendung mehr.

Für Arzneimittel, die in unterschiedlichen Patientengruppen jeweils einen unterschiedlichen Zusatznutzen aufweisen, ist aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung geklärt, dass ein sog. „Mischpreis“ zulässig ist (BSG, Urteil vom 04.07.2018, B 3 KR 21/17 R). Dafür werden zunächst die oben beschriebenen Preisfindungsvorgaben auf die einzelnen Patientengruppen angewendet: Je nach Zusatznutzen sowie Patent- und Unterlagenstatus der jeweils bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapie wird ein Teilbetrag angesetzt. Die Teilbeträge werden dann über eine Gewichtung anhand der jeweiligen Patientengruppengröße zu einem einheitlichen Erstattungsbetrag als Mischkalkulation zusammengeführt.

Das Medizinforschungsgesetz (MFG) aus dem Jahr 2024 änderte jüngst die bisherige Regelung zur Preisgestaltung von Arzneimitteln, die erstmalig in den Markt eingeführt werden, fundamental: Bei Wirkstoffen, die nach dem 1. Januar 2025 nach Inverkehrbringen erstmalig in Verhandlung sind, besteht für pharmazeutische Unternehmer nun die Möglichkeit, den Erstattungsbetrag gemäß § 130b Abs. 1c SGB V (neu) nicht an öffentliche Preis– und Produktverzeichnisse zu melden. Hierzu ist ein entsprechender Nachweis gegenüber dem GKV-Spitzenverband zu erbringen, dass eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Deutschland vorhanden ist, relevante eigene Projekte verfolgt werden und Kooperationen mit öffentlichen Einrichtungen in Deutschland bestehen.

Weitere Inhalte einer Regelung nach §130b SGB V

Neben dem Erstattungsbetrag sollen Vereinbarungen u. a. auch Voraussetzungen für eine indikationsgerechte, zweckmäßige und wirtschaftliche Verordnungsweise des jeweiligen Arzneimittels festlegen – auch im Kontext der Vereinbarung von Praxisbesonderheiten. Mengenbezogene Staffelung oder ein jährliches Gesamtmengen– oder Gesamtausgabenvolumen sind seit dem GKV-FinStG 2022 Pflichtinhalte, zugleich aber auch der Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien zugänglich. Die Vereinbarungen haben eine gesetzliche Mindestlaufzeit von einem Jahr; gesetzliche Sonderkündigungsrechte, beispielsweise aufgrund eines neuen Nutzenbewertungsbeschlusses, ermöglichen eine vorzeitige Lösung von der Vereinbarung.

Dokumente und Links