Die Versorgung der Patienten mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln erfolgt heute sicher und flächendeckend. Allerdings dominieren die althergebrachten Apothekenstrukturen unverändert. Der Entwicklungsstillstand lässt damit die Chancen von innovativen und flexibleren Ansätzen in der Versorgung weitgehend ungenutzt. In Zeiten einer zunehmenden Digitalisierung müssen neue Wege in der pharmazeutischen Versorgung eröffnet werden. Die vorhandenen Potenziale ungenutzt zu lassen oder gar einzuschränken, würde einen Rückschritt bedeuten. Das traditionelle Apothekensystem und die Vergütung gehören in der aktuellen Legislaturperiode auf den Prüfstand.
Mit dem Vor-Ort-Apotheken-Gesetz schreibt die Regierung im Wesentlichen die bestehenden Versorgungsformen fort: Statt vorhandene Effizienzreserven im System zu nutzen, sollen höhere Honorare der Apotheker mit zusätzlichem Geld der GKV-Beitragszahler in Höhe von mehr als 150 Millionen Euro finanziert werden. Damit ignoriert die Regierung Erkenntnisse aus einem vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) vorgelegten wissenschaftlichen Gutachten.
Das BMWi-Gutachten zeigte bereits 2017 auf, dass die gesetzlichen Krankenkassen für Leistungen der Apotheker insgesamt rd. 1Mrd. Euro mehr bezahlen, als bei einer kostendeckenden Vergütung eigentlich notwendig wäre. Außerdem kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass angesichts der Überversorgung in städtischen Räumen und der Niederlassungsfreiheit der Apotheker eine Förderung immer differenziert erfolgen muss, selbst bei Apotheken, die möglicherweise von einer Schließung bedroht sind. Eine starke wirtschaftliche Gefährdung sei tatsächlich nur für einen kleinen Teil der Apotheken gegeben. Diese sollten, so die Gutachter, durch eine Umverteilung der Gelder innerhalb der Apothekerschaft selbst gestärkt werden.
Das „Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken“ nutzt diesen finanziellen Spielraum jedoch nicht. Vielmehr greifen sie lediglich jene Ergebnisse aus dem Gutachten auf, die Apothekern neue Verdienstoptionen eröffnen. Hinzu kommt, dass Apotheken von den im Gesetzentwurf vorgesehenen neuen pharmazeutischen Dienstleistungen sehr unterschiedlich profitieren würden. Vor allem Apotheken in attraktiven städtischen Lagen könnten diese Dienstleistungen erbringen. Folglich ist davon auszugehen, dass die heutigen Unterschiede zwischen Apotheken mit hoher Anzahl an Patientenkontakten und Apotheken in schwach besiedelten Räumen weiter verstärkt werden.
Gerade in strukturschwachen Regionen könnten Patienten z. B. von flexibleren Öffnungszeiten der Apotheke (derzeit gibt es eine strikte Vorgabe in der Apothekenbetriebsordnung) oder von einer verstärkten mobilen Versorgung profitieren. Dank der Digitalisierung ergeben sich weitere Ansatzpunkte zur besseren Patientenversorgung. So könnte bspw. Telepharmazie - analog zu telemedizinischen Modellen in der ärztlichen Versorgung - eine sichere Arzneimittelabgabe garantieren: Vor Ort müsste in diesen speziellen Apotheken nur eine pharmazeutische Fachperson anwesend sein, die bei Fragen aber den approbierten Apotheker in der Hauptapotheke via Teleassistenz zu schalten kann.
Versandhandel beibehalten
Mit der Zulassung des Arzneimittelversandhandels wurden die starren Strukturen im Apothekenbereich ansatzweise geöffnet und damit die Versorgung vor allem für mobilitätseingeschränkte Patienten, aber auch in strukturschwächeren Regionen erheblich erleichtert. Grundsätzlich zu befürworten ist, dass das verschiedentlich geforderte Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Gesetzentwurf nicht vorgesehen ist. Es muss aber eine weitere Flexibilisierung erfolgen, um die Arzneimittelversorgung der Versicherten in Deutschland auch in Zukunft mit hoher Qualität und wirtschaftlich effizient sicherzustellen.
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass im Handel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven bestehen. Eine leistungsgerechte Vergütung und Flexibilisierung der Versorgungstruktur bei der Abgabe von rezeptpflichtigen Arzneimitteln ist vor diesem Hintergrund überfällig. Insbesondere bieten sich wettbewerbliche Instrumente an, um diese ökonomischen Ressourcen der Versichertengemeinschaft zugutekommen zu lassen. Der Wettbewerb setzt gleichzeitig Anreize für eine intensivere Beratung, von der die Patienten profitieren.
(Stand: 14.09.2020)