Nur sehr wenige Arzneimittel gegen seltene Krankheiten (Orphan Drugs) werden dem vom Gesetzgeber fiktiv unterstellten Zusatznutzen tatsächlich gerecht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des GKV-Spitzenverbandes aller Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Zusatznutzen neuer Arzneimittel aus den Jahren 2011 bis Mitte Dezember 2015. Danach stellte der G-BA für knapp die Hälfte der Patientengruppen (47 Prozent) bei Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten einen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen fest. Das bedeutet: Die wissenschaftliche Datenbasis ist nicht ausreichend, um das Ausmaß des Zusatznutzens zu beurteilen. Bei Arzneimitteln ohne Orphan-Status fällte der G-BA nur für vier Prozent der Patientengruppen ein solches Urteil. In weiteren 47 Prozent der Patientengruppen dieser neuen Orphan Drugs konnte der G-BA das kleinste Nutzenausmaß („gering“) zusprechen. Nur die restlichen rd. sechs Prozent haben das zweitbeste Votum („beträchtlich“) erhalten. Aufgrund des angenommenen Zusatznutzens kommt es bei Arzneimitteln gegen seltene Leiden zu Preisverhandlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Hersteller auf relativ hohem Preisniveau.
„Nach der politischen Zielsetzung der einschlägigen EU-Richtlinie haben Patienten mit seltenen Leiden uneingeschränkt dasselbe Recht auf eine gute Behandlung wie andere Patienten. Das heißt dann aber, dass aus Patientensicht bei diesen Arzneimitteln genau dasselbe Bedürfnis nach umfassender Information und Bewertung von Nutzen und Risiken besteht. Diesem Anspruch wird man nicht gerecht, wenn der G-BA einem Arzneimittel sogar dann einen Zusatznutzen aussprechen muss, wenn Zweifel am Nutzen bestehen und schwere Nebenwirkungen gemeldet werden“, so Johann-Magnus v. Stackelberg, stv. Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes. „Um Patienten mit seltenen Krankheiten eine sichere Arzneimitteltherapie anbieten zu können, muss der G-BA in begründeten Einzelfällen auch bei Orphan Drugs das Nutzen- und Schadenspotenzial vollständig prüfen dürfen. Hier ist eine Rechtsänderung dringend notwendig.“
Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das Arzneimittel mit dem Wirkstoff Alipogentiparvovec, eine Gentherapie zur Behandlung eines seltenen Erbgutdefekts: Während des laufenden Nutzenbewertungsverfahren wurden im Frühjahr bisher unbekannte schwere Nebenwirkungen publik. Der G-BA setzte daraufhin das Verfahren zeitweilig aus. Dennoch war er letztlich gesetzlich gezwungen, dem Arzneimittel einen Zusatznutzen auszusprechen. Der GKV-Spitzenverband hält dies für ein bedenkliches Signal an Ärzte, Patienten und Beitragszahler.
Hintergrund: derzeitige Rechtslage bei Zulassung und Nutzenbewertung
Als Ursache für das vergleichsweise schlechte Abschneiden von Arzneimitteln gegen seltene Leiden muss auf die stark herabgesetzten Zulassungsanforderungen verwiesen werden. Häufig werden Orphan Drugs mit der Auflage zugelassen, weitere Daten zu Nutzen und Schaden in der Versorgung, also nach einer Zulassung, zu erheben. Für die Erstbewertung des Arzneimittels durch den G-BA liegen diese Daten jedoch nicht vor. Während der G-BA bei vergleichbarer Datenlage bei einer regulären Nutzenbewertung keinen Zusatznutzen aussprechen würde, darf er das bei Orphan Drugs aufgrund des gesetzlich – jedoch fiktiv - unterstellten Zusatznutzens nicht.
Aktuell kann der G-BA angesichts des vom Gesetzgeber unterstellten Zusatznutzens bei Orphan Drugs nur noch das Ausmaß („erheblich“, „beträchtlich“, „gering“ oder „nicht quantifizierbar“) prüfen. Erst wenn der Umsatz eines Arzneimittels gegen seltene Krankheiten einen Umsatz von 50 Millionen Euro übersteigt, prüft der G-BA, ob der Zusatznutzen tatsächlich besteht. Diese Vorgabe greift auch dann, wenn Studiendaten einen Zusatznutzen nicht belegen oder es sogar Hinweise auf Schadenspotential gibt. Der fiktiv unterstellte Zusatznutzen ist damit Basis für die sich anschließenden Preisverhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Hersteller und dem GKV-Spitzenverband.