Alle Krankenkassen kämpfen im Interesse ihrer 75 Millionen Versicherten und deren Arbeitgeber darum, weitere Beitragserhöhungen zu vermeiden. Um das zu erreichen, muss auch die Politik endlich die Ausgabenentwicklung für alle Leistungsbereiche in den Blick nehmen. In den letzten zehn Jahren wurden reihenweise neue Gesetze beschlossen, die die gesundheitliche Versorgung kaum besser, dafür aber deutlich teurer gemacht haben. Das kann sich das Gesundheitswesen nicht mehr leisten. Gesetze müssen die Versorgung verbessern und dürfen auch die Einnahmenentwicklung und damit letztlich die finanzielle Belastbarkeit der Beitragszahlenden nicht ignorieren.
Blick auf finanzielle Notwendigkeiten fehlt
„Selbst ohne ein einziges neues Gesetz müssen die Krankenkassenbeiträge im nächsten Jahr voraussichtlich um mindestens 0,5 Beitragssatzpunkte steigen. Wenn jetzt noch eine teure Krankenhausreform dazukommt, wird selbst das nicht mehr reichen“, so Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Langfristig funktioniert das Gesundheitswesen nur, wenn es medizinisch, pflegerisch und ökonomisch im Gleichgewicht ist. Jährliche Beitragssatzanhebungen zur Finanzierung der medizinischen und pflegerischen Versorgung dürfen kein selbstverständlicher Baustein der Gesundheitspolitik sein.“
Im letzten Jahrzehnt sei der Blick auf die ökonomischen Notwendigkeiten verloren gegangen. „Wir brauchen“, so Pfeiffer, „aus dem Bundesgesundheitsministerium einen Plan, wie die Beitragsspirale beendet werden kann und keine nonchalanten Ankündigungen, dass es einfach so weitergeht.“
Keine Beitragserhöhungen für die Krankenhausreform
Auf- und Umbau von Krankenhäusern sind originäre Aufgaben des Staates und zuvorderst der Bundesländer. Doch dieser Aufgabe kommen die Bundesländer seit Jahrzehnten nur unzureichend nach. Für die nun anstehenden Investitionen zum Krankenhausumbau soll ein 50-Milliarden-Krankenhaus-Transformationsfonds geschaffen werden, den zur Hälfte die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren sollen. Pfeiffer im RND-Gespräch: „Es ist absolut inakzeptabel, den Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung eine 25-Milliarden-Euro-Rechnung zu schicken, damit sie für den Staat und die Privatversicherten den Löwenanteil des Krankenhausumbaus finanzieren. Staatliche Aufgaben müssen vom Staat, sprich über Steuermittel, finanziert werden!“
Reformfenster ist möglich
"Die Politik scheint sich an steigende Zusatzbeitragssätze gewöhnt zu haben, wir haben es nicht“, betonte Pfeiffer im Gespräch mit dem Tagesspiegel Background. Die sich abzeichnende Beitragserhöhungswelle zum Jahreswechsel könne noch abgewendet werden, wenn die Gesundheitspolitik entschlossen ein kurzfristiges Reformpaket schnüre. „Damit bekämen wir noch keine langfristige Stabilität, aber für die kommenden Jahre würden wir ein Reformfenster öffnen, das die Gesundheitspolitik gemeinsam mit der Selbstverwaltung für grundlegende Strukturreformen zum Abbau von Über- Unter- und Fehlversorgung nützen könnte und müsste. Wir stehen dafür bereit“, so Pfeiffer zum Tagesspiegel Background.
Im Gespräch mit dem Tagesspiegel Background erläuterte sie den Plan für ein kurzfristiges Reformpaket, mit dem sich Beitragserhebungen zum Jahreswechsel noch vermeiden ließen:
Mehrwertsteuer für Medikamente senken
Im vergangenen Jahr haben Versicherte und Arbeitgeber über ihre Krankenkassenbeiträge rund 8,4 Milliarden Euro an Mehrwertsteuern für Arzneimittel in den Bundesetat eingezahlt. Schon der ermäßigte Steuersatz würde die gesetzliche Krankenversicherung um mehr als fünf Milliarden Euro entlasten. „Mittlerweile versteht kein Mensch mehr, dass für Schnittblumen und Ölgemälde lediglich der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent gilt, der Staat dagegen für lebensrettende Krebsmedikamente und Blutdrucksenker mit 19 Prozent von den Krankenkassen mehr als doppelt so hohe Steuern verlangt“, so Doris Pfeiffer im Tagesspiegel Background.
Medizinische Versorgung von Bürgergeldbeziehern fair finanzieren
Es ist Aufgabe des Staates, das Existenzminimum von bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern zu gewährleisten. Dazu zählt auch die Absicherung der medizinischen Versorgung im Krankheitsfall. Mit dieser Aufgabe hat der Staat die gesetzlichen Krankenkassen beauftragt. Bei dem finanziellen Ausgleich für diese Leistungen kommt der Bund seinen Ausgleichsverpflichtungen gegenüber den Krankenkassen aber nicht annähernd nach: Aktuell zahlt der Bund der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr rund zehn Milliarden Euro weniger, als sie für diese Leistungen im Auftrag des Staates ausgibt. Dem Tagesspiegel Background sagte sie dazu; „Mit einer ausreichenden Finanzierung der von den gesetzlichen Krankenkassen zu leistenden gesundheitlichen Versorgung der Bürgergeldbeziehenden müssten wir Anfang des nächsten Jahres nicht über Beitragserhöhungen sprechen. Noch hat die Bundesregierung Zeit zu handeln.“
Bundeszuschuss wird schleichend entwertet
Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen zahlreiche sogenannte versicherungsfremde Aufgaben. Zum Beispiel zahlen sie das Mutterschaftsgeld, obwohl dies eine familienpolitische Leistung ist und damit vom Staat zu finanzieren wäre. Von Pandemie-bedingten Sonderzahlungen abgesehen, beträgt der reguläre Bundeszuschuss seit dem Jahr 2016 14,5 Milliarden Euro pro Jahr. Die Höhe ist gesetzlich festgeschrieben, während die Ausgaben für die versicherungsfremden Leistungen schon aufgrund der Kostenentwicklung Jahr für Jahr steigen. "Wir brauchen“, so Pfeiffer in dem Background-Gespräch, „beim Bundeszuschuss eine Dynamisierung, um ihn an die Höhe der Kosten- und Inflationsentwicklung anzupassen. Wenn bei steigenden Ausgaben der Bundeszuschuss stagniert, haben wir Jahr für Jahr eine schleichende Entwertung.“