Soziale und gemeinsame Selbstverwaltung sind die tragenden Säulen der deutschen Sozialversicherung. Die soziale Selbstverwaltung ist das Erfolgsmodell der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Ausgestaltung der sozialen Sicherung durch Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen sichert nicht nur die Vertretung und Einbeziehung von Interessen im Sozialstaat, sondern sorgt auch für eine patienten- und versichertenorientierte, praxisnahe sowie verantwortliche Gestaltung insbesondere des Gesundheitswesens. Vertreterinnen und Vertreter der Beitragszahler, also in Sozialwahlen gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Versicherten und Arbeitgeber, treffen im Interessenausgleich eigenverantwortlich Entscheidungen über die Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung im Rahmen allgemeiner Vorgaben des Gesetzgebers. Dabei bringen sie Qualität und Finanzierbarkeit der Versorgung in Einklang – ganz unabhängig von politischen Erwägungen und Konstellationen.
Die soziale Selbstverwaltung bildet die Grundlage für die gemeinsame Selbstverwaltung, in der mit den Leistungserbringern versorgungsrelevante Entscheidungen getroffen werden. Bereits in den letzten Jahren wurde der Aufgabenbereich der Selbstverwaltung durch gesetzgeberische Entscheidungen sukzessive eingeschränkt. Die Aufsichten haben neue Weisungs- und Kontrollrechte erhalten, mit denen sie den Gestaltungsraum sowohl der sozialen als auch der gemeinsamen Selbstverwaltung einschränken können. Zudem sind Eingriffe in die Personalverantwortung erfolgt, u. a. bei der Benennung der unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie bei der Vertragsgestaltung für das Vorstandspersonal der Krankenkassen und beim GKV-Spitzenverband. Notwendig waren diese Regelungen nicht, denn die soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen und ihrer Verbände ist mit ihren Kompetenzen immer verantwortungsvoll umgegangen. Die soziale Selbstverwaltung wird dem ihr übertragenen gesetzlichen Auftrag gerecht und trägt zu einer qualitativ hochwertigen und sicheren gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung entscheidend bei.
Dennoch sind aktuell weitere tiefgreifende Einschnitte in den Aufgabenbereich der Selbstverwaltung vorgesehen. Mit dem vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Terminservice- und Versorgungsgesetz wird eine gravierende Umgestaltung der Gesellschafterstruktur der gematik vorgenommen. Mit der Übernahme von 51 Prozent der Gesellschafteranteile durch das Bundesministerium für Gesundheit wird die gemeinsame Selbstverwaltung faktisch ausgeschaltet und die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen enteignet. Die gematik wird damit zu einer nachgeordneten Behörde, die Finanzierung erfolgt aber weiterhin aus Mitteln der Beitragszahlenden. Dies ist aus Sicht des Verwaltungsrates nicht akzeptabel, wird entschieden abgelehnt und ist ordnungspolitisch falsch. Finanzierungs- und Entscheidungskompetenzen müssen vielmehr in einer Hand liegen.
Bei der Methodenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss droht durch aktuelle Eingriffe ein völliger Systembruch. Denn das Bundesministerium für Gesundheit plant, sich gesetzgeberisch die Möglichkeit einräumen zu lassen, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates in den kollektiven Leistungskatalog aufzunehmen. Das Verfahren würde dann hochgradig anfällig für Entscheidungen nach politischer Opportunität und Klientelpolitik. Im Ergebnis könnten neue Leistungen unabhängig von Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin und ohne jegliche Nutzenbewertung in die Versorgung eingeführt werden. Der Verwaltungsrat wehrt sich entschieden dagegen, dass mit derart weitreichenden Änderungen die gemeinsame Selbstverwaltung ad absurdum geführt wird.
Auch bei der Verantwortung für die Haushalte der Krankenkassen – einem Kernbereich der sozialen Selbstverwaltung – wurden zuletzt enge Vorgaben zum Abbau von Reserven getroffen. Aktuell zeichnet sich bereits eine weitere gesetzliche Regulierung ab: Nach den Plänen des Bundesministeriums für Gesundheit soll der Entscheidungsraum der sozialen Selbstverwaltung über die Finanzreserven sowie zur Festlegung des Zusatzbeitragssatzes weiter eingeschränkt werden. Diese Eingriffe in die Finanzplanung sind abzulehnen.
Der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes fordert die politischen Entscheidungsträger auf, die im Koalitionsvertrag vorgesehene Stärkung der Selbstverwaltung tatsächlich umzusetzen. Dazu gehört auch eine sachliche Auseinandersetzung darüber, wie eine sinnvolle Aufgabenteilung zwischen Staatsverwaltung einerseits und sozialer Selbstverwaltung andererseits aussehen soll. Die soziale wie die gemeinsame Selbstverwaltung brauchen ausreichende Gestaltungsspielräume, um die wichtigen Aufgaben umzusetzen. Hierüber sollten Politik und soziale Selbstverwaltung in einen Dialog eintreten. Mit Blick auf die anstehenden Herausforderungen sind die praxisnahen Entscheidungen und der Sachverstand der sozialen Selbstverwaltung mehr denn je gefordert. Der Verwaltungsrat begrüßt, dass Bundesgesundheitsminister Spahn heute erstmalig mit dem Verwaltungsrat in einen Austausch tritt. Der Verwaltungsrat hat seine Erwartung deutlich gemacht, dass die Handlungsmöglichkeiten der sozialen Selbstverwaltung gestärkt und nicht eingeschränkt werden.